Markus 1:9

Und es begab sich in jenen Tagen, dass Jesus aus dem galiläischen Nazareth kam und sich von Johannes im Jordan taufen ließ. (Textbibel 1899, Luther 1545, eigene Formulierung)

Wie schon erwähnt, zog laut Markus 1,5 ganz Judäa und Jerusalem zu Johannes, um sich taufen zu lassen. Jesus aber war nicht von dort, sondern aus Galiläa, was übersetzt „Bezirk der Heiden“ heißt (siehe „Der Kleine Pauly“, Bd. 2/677). Jesus gehörte somit nicht zu jenem topographischen und sozialen Kern des auch politischen Judentums, dessen Mitglieder en bloque zu Johannes kamen, dem Täufer und Prediger von Reinheit, Vergebung und Vereinigung. Jesus kam zur Taufe aus einer benachbarten Provinz, wo es Juden wie Heiden gab. Das eigenartige daran: nur Jesus empfing bei Johannes‘ Taufen den Heiligen Geist, als er aus dem Wasser stieg, so wie es gleich der nächste Vers (Markus 1,10) beschreibt.

Waren diese Menschen aus Judäa und Jerusalem, diese Juden, die sich als bloße Nachfahren von Moses‘ Volk Israel für von Gott auserwählt hielten und im Wesentlichen unter sich blieben, überhaupt empfänglich für den Heiligen Geist, waren sie leidbewusste und sündbewusste Menschen, die deshalb Johannes aufsuchten? Hörten Sie tatsächlich den Ruf des Johannes als konkreten Aufruf zur Umkehr? Die beiden anderen synoptischen Evangelisten bezeichnen die Menge, die aus Judäa und Jerusalem kam als „Schlangenbrut“, die keine „Früchte“ der Umkehr hervorbrachte. Lukas mahnt dieses gegenüber den „Heiden“, den „anderen“, eng zusammengerückte „reine“ Volk Israel, sich sündenfrei zu fühlen, nur weil es von Abraham abstammt (Lukas 3,8). Sie sahen sich als Nachfahren desjenigen israelitischen Volkes, das einst mit Moses aus Ägypten, dem paradigmatischen Land der Sünde, der Entfremdung auszog und so die Umkehr schon vollzogen hatte. In ihrem Selbstverständnis war für sie insofern keine Umkehr mehr notwendig. Will hier der Evangelist von vornherein andeuten, dass die Umkehr bzw. ihr Erhalt eine ständige Aufgabe des bewussten Menschen ist? Dass jede Tradition der vollzogenen Umkehr die dauerhafte positive Offenheit gegenüber dem göttlichen Gesamtprozess nicht garantieren kann, ja vielleicht sogar behindert? Dass die effektive Offenheit eine permanent lebendige Aufgabe für jeden Menschen darstellt? Dass diese Aufgabe der bewussten Offenheit gegenüber Gott zum Mensch-Sein überhaupt gehört?

Auch die weitere Jesusgeschichte zeigt, dass diese sehr stark in ihrer kulturellen und religiösen, ja politischen Tradition verkapselten Juden Johannes nicht verstanden hatten und von ihrem tatsächlichen Umkehrwillen keine Rede sein konnte. Diese Schriftgelehrten leiteten ihre erfolgte Umkehr nicht aus ihrem lebendigen Verhältnis zu ihrer faktischen Sündhaftigkeit und dem daraus folgenden Leid ab, sondern nur aus dem Schein, den ihnen das Studium erstarrter Schriften und ihre besondere Herkunft vorgaukelten. Dieses „ganze Volk von Judäa und Jerusalem“, das sich geschlossen bei Johannes dem Täufer einfand, hat dann wenig später Jesus kreuzigen lassen. Es kam anscheinend zu Johannes, um sich als schon Umgekehrte bei ihm zu präsentieren und sich durch die Taufe in diesem Schein von vollzogener Umkehr gegenseitig zu bestätigen. Sie waren nicht vereint im Bewusstsein ihrer Sündhaftigkeit und deren notwendiger Überwindung, genauso wenig in gemeinsamer Offenheit gegenüber Gott. Sie waren vereint in nur scheinbarer Offenheit, Reinheit und Sündlosigkeit, d.h. in der bloßen Tradition von religiösen Äußerlichkeiten.

Jesus aber, der galiläische, der nicht im identitären Schulterschluss geblendete, nicht selbstgefällige wirkliche Israelit aus der heidnisch durchsetzten Provinz hat die besseren Voraussetzungen, um die mögliche eigene Sünde und das daraus folgende Leid in der Unkultur lebendig zu spüren und die geistigen Konsequenzen daraus ganz zu vollziehen, denn sonst hätte Johannes' Taufe bei ihm nicht diese besondere Wirkung gehabt. Er will sich in der Taufe vor allen Mitgetauften symbolisch lösen von den Fängen der Unkultur, will sein Wesen von ihr reinigen und befreien, will, dass seine Sünden vergeben werden und den anderen vergeben. Das Tragische: Die Mitgetauften sind nur eine Scheingemeinschaft in der Umkehr. Jesus ist alleine. Nur er wird vom Heiligen Geist erfüllt.

Der von Johannes angekündigte Nachfolger gehört somit nur einer noch fiktiven Gemeinschaft an, einer noch fiktiven Gruppe von Menschen, welche gemeinsam die Unkultur, den „Teufel“ (aus Griechisch „diabolos“: Verwirrer, Faktenverdreher / siehe Wikipedia), die Verwirrung im Falschen hinter sich lassen und sich reinigen wollen und dies auch tatsächlich tun. Jesus ist in der Evangeliumsgeschichte der erste und zunächst einzige positive Überwinder des Teufels, der Unkultur. Wenn man diese Logik weiter spinnt, hat auch Johannes diese Umkehr noch nicht vollzogen. Er hat nur erkannt, dass sie notwendig ist, konnte sich von ihr aber (wie gesagt) nur negativ lösen. Am Anfang treffen sich also derjenige, der die radikale Umkehr als notwenig erachtet, sie aber noch nicht umsetzen konnte, das Volk der Juden, das sich von seinem eigenen Anspruch und seiner Vorgeschichte geblendet für schon umgekehrt, sündlos hält, und Jesus, der als zu diesem Zeitpunkt einziger die Umkehr voll verwirklicht hat. Genau diese Konstellation bestimmt den Fortgang der Jesusgeschichte.

Neuformulierung: Und es begab sich in jenen Tagen fortgeschrittener Selbstgefälligkeit der Nachfahren des von Gott einst erwählten Volkes Israel, dass der vollkommen sünd- und leidbewusste wie auch dem göttlichen Gesamtprozess gegenüber ganz ergebene Jesus kam. Er war aus dem kleinen Ort Nazareth in Galiläa, einer Region, wo solch jüdische Selbstblendung durch den Kontakt mit den Heiden schwächer und das Bewusstwerden der eigenen Sünde, des eigenen Leids in der Sünde und der notwendigen realen Umkehr naheliegender war. Er fand sich ein bei Johannes dem Täufer, um sich von ihm taufen zu lassen, um durch Johannes' Taufe öffentlich, auch vor den judäischen und Jerusalemer Juden, die Notwendigkeit der inneren Reinigung zur gegenseitigen Vergebung der Sünden und zur gemeinsamen immer wieder zu vollziehenden Umkehr zu bekunden.

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