Markus 1:7

und er predigte und sprach: es kommt nach mir einer, der stärker ist als ich, für den ich nicht gut genug bin, mich zu bücken und ihm den Schuhriemen zu lösen. (Textbibel 1899, Luther 1545)

Johannes als Typus, als diese besondere menschliche Seinsform des Asketen, der sich im befreienden Raum der Wüste erst einmal von der entfremdeten Unkultur weit entfernt hat, ist „nur“ der Anfang des Prozesses der notwendigen Umkehr und einer neuen Lebensweise für die im Falschen Verstrickten. Er repräsentiert die verschiedenen Facetten der Reinigung, Einstimmung und Vorbereitung, die nötig sind, um erst einmal die Sünde, die Unkultur als solche zu erkennen und überwinden zu wollen: Bewusstwerdung des unkulturellen Leids, Erkenntnis der eigenen Schuld daran, der eigenen Sündhaftigkeit, umfassende Vergebung der Sünden, die die Menschen als Entfremdete in der entfremdeten Welt begehen, mit vorbereitender Sozialisierung in dieser Erkenntnis und diesem Willen zur Umkehr.

Nach der von der Unkultur distanzierenden und in dieser Distanzierung menschlich verbindenden Vorbereitung, nach Johannes (der also diese Vorbereitung, diesen Anfang symbolisiert), muss das- oder derjenige kommen, der „stärker“ ist als jene bloße Reinigung und Vorbereitung. War Johannes noch bloß negativ, indem er den Menschen vorlebte und sie vor allem auf diese Weise ermahnte, „umzukehren“, sich leer zu machen, die Bindung an die unreinen „Geister“ (d.h. an die entfremdeten Vorstellungen und Prägungen der Unkultur) aufzugeben, zu leeren Gefäßen zu werden, musste danach der authentisch passende positive „geistige“ Inhalt für den Menschen als Menschen auf den Plan treten. Diesen positiven Inhalt inkarniert Jesus Christus. Er ist der Typus eines Menschen, der keine Referenz zur Entfremdung mehr hat. Er kann dadurch den göttlichen Gesamtprozess positiv in sich aufnehmen, spiegelt ihn als ihm völlig adäquate Denk-, Handlungs- und Fühlweise. Er ist erfüllt vom „Heiligen Geist“ - heilig, weil er heilsam und unantastbar ist, weil er das Heil verbürgt und verkörpert.

Die Vorbereitung zur Umkehr, ja die Umkehr selbst, bewegt Jesus nicht. Als „Messias“ ist er einfach und nur vom Heiligen Geist erfüllt. Johannes dagegen ist noch mit der Umkehr als Umkehr beschäftigt, sodass die Unkultur, das Falsche für ihn immer noch im Fokus seines Denkens, Fühlens und Handelns steht. Sie bestimmt ihn immer noch, wenn auch nur negativ.

Jene positive Er-fülltheit durch den Gesamtprozess, durch Gott, diese bewusste volle Entsprechung, befähigt Jesus, den Heiligen Geist quasi direkt weiter zu geben. Durch sein Modell, sein Vorbild, sein konkretes In-Sein und seine daraus geschöpfte enthusiasmierende Motivationskraft, können die gereinigten, die sich lösenden und sogar die noch stark in der Unkultur verstrickten – kurz: alle – Mitmenschen, ebenfalls vom heiligen Geist erfüllt werden, sich ebenfalls positiv direkt auf Gott, die Allnatur, das „Gute“ ausrichten und im so verstandenen göttlichen Sinne leben. Durch Jesu be-geistertes und be-geisterndes Vorbild ist nicht mehr das Negativbild der bewusst als solches erlebten Un-Kultur der Motor zur Umkehr (Abkehr), sondern das positive Sein des „Fleisch gewordenen“ göttlichen Geistes des Gesamtprozesses selbst (Hinwendung). Erst im Typus des Jesus Christus als rein positiv Inspiriertem kann die Wandlung hin zum Menschen als Menschen tatsächlich ganz vollzogen werden. Die ersten Beispiele für eine solche direkte positive Umkehr sind Jesu Begegnungen mit den Apostel Simon, Andreas, Johannes und Jakobus, die Jesus unvermittelt einfach „folgen“.

Die positive Fokussierung des Menschen auf den göttlichen Gesamt-prozess und seine Umsetzung im Handeln, Denken und Fühlen ist entscheidender als die negative Reinigung und Vorbereitung. Deshalb sagt Johannes, dass der, welcher nach ihm kommt, stärker ist als er selbst. Seine negative Funktion kann der positiven Funktion Jesu „nur“ voran gehen und ist so gesehen weniger ent-scheidend, vielleicht sogar nicht einmal notwendig. Denn zur wirklichen Entscheidung gehört notwendig das Positive, für das man sich entscheidet. Es genügt nicht, wenn man weiß, dass das eine nicht gut ist. Man muss das andere, das „Gute“, kennen und sich dafür praktisch entscheiden, indem man es tut, fühlt und denkt. Ist das auch der Grund, warum Moses das „gelobte Land“ nicht sehen konnte bzw. durfte? War er als ein „Johannes-Typus“ noch zu sehr an das Negative des Auszugs aus „Ägypten“ gebunden, sodass er sich nicht ganz davon befreien konnte?

Es braucht den Johannes-Typus, der das Falsche als solches erkennt und der diese Erkenntnis bzw. den Weg dazu weiter gibt. Aus der Mitte von Menschen dieses Typs, aus der Mitte der so Erkennenden, geht dann in zweiter Generation der Jesus-Typus hervor, der nur noch Positiv auf das Richtige ausgerichtet ist und diese Ausrichtung sogar an jene weiter geben kann, die noch im Falschen sind, die aber durch die positive Ausstrahlung des „Heiligen Geistes“ des Jesus-Typus sofort vom Falschen ablassen und das Richtige aufnehmen, um danach zu leben.

Diesen Unterschied zwischen negativer Reinigung und positiver Prägung veranlasste Johannes den Täufer sogar zu sagen, dass er es nicht Wert sei, sich zu bücken, um Jesus die Schuhriemen zu lösen. Diese Aussage drückt freilich eine Art radikale Ehrerbietung aus. Man sollte aber auch über das Bild des Schuhriemen-Öffnens etwas nachdenken. Der Schuh kann als Symbol für die entfremdende und entfremdete Unkultur verstanden werden. Im Wikipedia-Artikel zu „Schuh“ ist zu lesen: „Im alten Ägypten durften nur Pharaonen ... hohe Beamte und Priester (also die Entfremdetsten) (Schuhe) tragen. Das Volk ging barfuß.“ In der arabisch muslimischen Welt gilt der Schuh noch heute als „Inbegriff von Unreinheit und Schmutz“. (Die Welt, 7.1.2012) „Als die monumentale Statue Saddam Husseins 2003 in Bagdad stürzte, bewarfen wütende Iraker das Denkmal des Ex-Diktators mit Steinen und Schuhen.“ (Die Welt, ibid.)

Im griechischen Originaltext erscheint für „nicht wert sein“ der Ausdruck „ἱκανός“ (hikanós). Laut englischem Altgriechisch-Lexikon wird das Wort üblicher Weise mit „able, capable, skilled, able-bodied, competent“ übersetzt. So betrachtet, bedeutete Johannes‘ Aussage, dass er nicht kompetent, nicht in der Lage sei, von Jesus Unreines (die Schuhe) zu entfernen, dass er seiner üblichen Funktion als Reinigender nicht gerecht werden konnte, weil eine solche Reinigung bei Jesus, der nicht einmal indirekt vom Schmutz der Unkultur tangiert wird, gänzlich überflüssig war. Auch wenn Jesus Schuhe trägt, die den Schmutz der Entfremdung aufnehmen und permanent mit diesem in Berührung sind, bleibt er vom Schmutz, vom Falschen unberührt. Er ist ganz erfüllt vom Positiven des göttlichen Gesamtprozesses. Auch die Schuhe als Symbol für die führende Kaste der ägyptischen Unkultur bleiben bei Jesus ohne entfremdende Wirkung. Sie brauchen deshalb gar nicht gelöst und ausgezogen werden. Deshalb kann Jesus im Gegensatz zu Johannes später auch feiern und Wein trinken.

Neuformulierung: und Johannes der Reinigende und Vorbereiter, der die in der Unkultur verhafteten Menschen in ihrem Sündbewusstsein und ihrer Bereitschaft zur Umkehr zu einen versuchte, predigte und sprach: nach mir, nach meiner Vorbereitung wird das Wesentliche, der eigentliche Erlöser kommen und eure negativ erreichte Leere wird ganz positiv den göttlichem Inhalt aufnehmen. Ich als bloßer Vorbereiter brauche mich nicht zu bücken und ihm den Schuhriemen lösen, damit er sich vom Schmutz der Unkultur befreite.

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