Markus 1:1

"Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes," (Einheitsübersetzung 1980)

Der griechische Begriff „Evangelium“ bezeichnet ursprünglich eine mündlich verkündete frohe Botschaft zu Rettung und Heil.

Der Umstand des Mündlichen gibt sofort zu denken. Gehörte zu dieser Art von Botschaft, dass ihr heilend euphorisierender Inhalt „frisch“ und lebendig kundgetan werden musste? Bei einem unvermittelten freudigen Aussprechen eines „Evangeliums“ ist zu erwarten, dass das Erlebnis von Heilung, Rettung und Begeisterung, das den Mitteilenden noch in seinem ganzen Wesen bestimmt, sich auf den Botschaftsempfänger „ansteckend“ überträgt. Zumindest kann es letzteren zutiefst motivieren, sich selbst auf den gleichen Weg dieser begeisternden Erfahrung zu machen. Man stelle sich nur vor, wie es wirken muss, wenn man jemanden direkt vor sich hat, der von höchstem Glück erfüllt begeistert seine Heilserfahrung kundtut. Wohl auch aus diesem Grund haben Johannes der Täufer und Jesus nichts schriftlich festgehalten: Solche Auslagerung des Erlebten auf totes Papier hätte die Authentizität und Wirkung der frohen Botschaft erheblich reduziert, wenn nicht sogar aufgehoben. Es geht bei einem Evangelium um eine euphorisierende Erfahrung und ihre Kommunikation, nicht um die Mitteilung einer abstrakten Information. Die trockene schriftliche Fixierung einer Mitteilung ist denkbar unangepasst, das Erleben einer in allen ihren Dimensionen erfassten Person zu kommunizieren. Die schließlich doch erfolgte schriftliche Aufzeichnung des Evangeliums fand Jahrzehnte nach Jesu Wirken statt und hatte wahrscheinlich wenig mit dem Prozess der konkret lebendigen Verkündung des Evangeliums zu tun. Die lebendige Vermittlung war vielleicht sogar Teil des zu vermittelnden Heils selbst, das keine isolierte Privatseligkeit sein wollte und konnte. Das Miteinbeziehen der anderen Menschen hätte dann notwendig dazugehört.

Der Ausdruck „Evangelium“ verwies allgemein auch auf einen Sieg über etwas. Ein Sieg steht immer am Ende einer Art Kampf. Um welche Auseinandersetzung handelte es sich hier? Wer sind die Kontrahenten? Welcher Sieg wurde errungen?

Jesus Christus ist das zum Namen konzentrierte Glaubensbekenntnis der Urchristen. Christus heißt „der Gesalbte“, hebräisch „der Messias“, der Retter. Er ist als solcher Sohn Gottes. Wer oder was ist aber „Gott“? Ist es nicht vernünftig zu sagen, der monotheistische „Gott“ sei letzten Endes das, was den Menschen, die „Natur“ und alle damit zusammenhängenden Prozesse ständig hervorbringt und in sich zusammenhält? „Gott“ wäre demnach das Prinzip des natürlichen Gesamtprozesses alles Seienden und Wirklichen. Oder anders formuliert: „Gott“ ist das Ganze aller sich gegenseitig bedingenden Teile der „Natur“, des einfach so Seienden.

Ein Sohn Gottes ist ein Mensch, der diesem natürlichen Gesamtprozess bewusst und seinem ganzen Wesen nach entspricht und dadurch in seiner Wahrnehmung, seinem Denken, Fühlen und Handeln ganz von diesem allumfassenden Prozess geprägt ist. Indem der Mensch die Entfaltung des Weltganzen auf- und wahr-nimmt, indem er sich auf die ganze lebendige Natur offen einlässt, zu der wesentlich auch seine Mitmenschen und er selbst gehören, schwingt er mit dem Gesamtprozess und prägt sich zum entfalteten Menschen. Er macht sich durch solches Einlassen zum Abbild, zum Abkömmling Gottes und befriedigt damit sein innerstes Bedürfnis wie auch dasjenige des Weltganzen.

Der „Anfang“ ist nach Markus 1,2 ff das Vorausschicken des Boten Johannes. Inwiefern stellt diese Sendung einen Anfang dar? Die allgemein heilbringende, heilende, rettende Erfahrung, die dann öffentlich als Evangelium verkündet wurde, hat offensichtlich für Jesus (denn es ist ja das Evangelium von Jesus Christus) ihren Ursprung im Tun Johannes' des Täufers. Jesus ließ sich von ihm taufen und fand dadurch zur vollkommenen Prägung durch den Heiligen Geist (Markus 1,10). Nach dieser Taufe und seinem unmittelbar darauf folgenden Rückzug in die Wüste, begann dann das Wirken Jesu, begann er, das Evangelium allen zu verkünden (Markus 1,14). Vorher war er anscheinend noch nicht fähig oder bereit dazu.

Neuformulierung: Anfang, Prolog, Ursprung, der dazu führte, dass Jesus der Gerettete und Retter, einen Sieg erringen konnte, der ihn in die Lage versetzte, dem göttlich lebendigen Gesamtprozess voll zu entsprechen und die dabei entstehende Freude und Begeisterung darüber den anderen Menschen kundzutun;

Anmerkungen:

  1. Das Problem der mündlichen oder schriftlichen Überlieferung

  • Der Jahrzehnte anhaltende mündliche Charakter der Propagierung der Evangelien ist möglicherweise weniger ein Indiz für die mündliche Überlieferung eines narrativen bestimmten Inhalts, welchen man nach fast einem Jahrhundert zur Sicherung der „einen“ Wahrheit hätte aufschreiben müssen, sondern mehr ein Hinweis darauf, dass es auf die konkrete genaue Geschichte weniger ankam als auf den durch diese Geschichte symbolisierten geistigen (bewusstseins-verändernden) Prozess selbst.

  • Es ist bekannt, dass Mohammed quasi der einzige Stifter einer Weltreligion ist, der von vornherein seine „Lehre“ schriftlich fixieren wollte, um sie vor „Verfälschung und Entartung“ zu schützen (vergl. Eve-Marie Becker „Das Markus-Evangelium Im Rahmen Antiker Historiographie“). Könnte dies bedeuten, dass es dem Islam mehr auf eine äußere „ordnende“ Form als auf eine innere inhaltliche Erneuerung und Umkehr ankommt?

  1. Der vorerst hypothetische Gedanke, dass zum Evangelium notwendigerweise die „ansteckende“ Übermittlung des Heilserlebnisses gehört, könnte auf einen Unterschied zwischen Christentum und Buddhismus hindeuten. Nach seiner Erleuchtung war der Buddha nicht an einem freudigen Hinausposaunen interessiert. Der Wunsch nach der Erleuchtung der anderen Menschen gehörte nicht notwendig zu seiner erleuchteten Seligkeit dazu. Der Legende nach mussten die Götter ihn erst dazu überreden.

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